Der umgekehrte Frontzahnüberbiss, bei dem also die unteren Schneidezähne vor den oberen stehen, ist als Progenie bekannt. Auffällig ist hierbei ein Kinn, das ausgeprägter ist als der Oberkieferbereich. Die Progenie tritt in verschiedenen Erscheinungsformen auf, die zugleich einen unterschiedlichen Schweregrad der Zahnfehlstellung darstellen und verschiedene Ursachen haben. Auch die Beeinträchtigungen der Betroffenen, etwa die Kaufunktion oder die Nasenatmung, können bei den einzelnen Formen der Progenie ein unterschiedliches Ausmaß annehmen. In der Regel wird eine Progenie vererbt.
In der Zahnmedizin werden unterschieden:
Charakteristisch für die Erscheinungsform der echten Progenie ist ein zu großer Unterkiefer, wobei die Unterlippe in der Regel kräftig ausgeprägt ist.
Die Ursache für eine unechte Progenie ist ein zu kleiner Oberkiefer. Dieser äußert sich unter anderem in einem abgeflachten Mittelgesicht sowie einer eingefallenen Oberlippe. Der Unterkiefer ist an sich nicht vergrößert, wirkt aber größer als in anderen Gesichtern.
Mischformen mit Merkmalen einer echten und einer unechten Progenie finden sich ebenfalls bei einigen Menschen.
In der modernen Klassifikation der Zahnfehlstellungen in der Zahnmedizin gehört die Progenie im Übrigen zur Angle-Klasse III. Bei den Angle-Klassen werden die Fehlstellungen danach eingeteilt, wie die oberen und unteren ersten Backenzähne zueinander stehen.
Die Diagnose der Progenie erfolgt durch einen Zahnarzt, einen MKG-Chirurgen (Mund-Kiefer-Gesicht-Chirurgie) oder einen Kieferorthopäden. Für die Diagnose muss zunächst eine gründliche Analyse des Problems durchgeführt werden. Damit der Facharzt erkennen kann, ob es sich um eine echte oder um eine unechte Progenie handelt, muss er üblicherweise eine Röntgenaufnahme des Kiefers anfertigen.
Ob die Betroffenen nun unter einer echten oder unechten Progenie leiden, ist unerheblich. Wichtig ist in jedem Fall, dass diese Kieferfehlstellung rechtzeitig erkannt wird. Denn je früher die Progenie erkannt wird, umso einfacher lässt sie sich behandeln.
Während sich beide Formen der Progenie äußerlich betrachtet durch unterschiedliche Symptome bemerkbar machen, zeigen beide im Inneren des Mundraumes im Grunde dieselben Merkmale: In vielen Fällen ist der Oberkiefer nur schmal ausgebildet, während der Unterkiefer vergleichsweise breit erscheint. Weil der Oberkiefer zu klein ist, kann sich das Gebiss oft nicht vollständig ausbilden, da den Zähnen kein ausreichender Platz für eine gesunde Entwicklung zur Verfügung steht. Die Zähne stehen dort eng.
Weil im Unterkiefer dagegen mehr Platz zur Verfügung steht, als die Zähne eigentlich bräuchten, lassen sich in diesem Bereich häufig Lücken zwischen den Zähnen beobachten. In Ruhelage befindet sich die Zunge bei vielen Betroffenen unten und nach vorne gerichtet. Weil die Nasenatmung durch die Progenie beeinträchtigt wird, atmen die Patienten vielfach durch den Mund.
Bei geschlossenem Gebiss lässt sich ein sogenannter Mesialbiss feststellen, bei dem der Oberkiefer hinter dem Unterkiefer liegt. Dieser hat für die Betroffenen unangenehme Folgen. Es handelt sich hierbei nicht nur um ein kosmetisches Problem, das vor allem beim Lächeln zu bemerken ist. Viele der Betroffenen leiden auch darunter, dass sie die Nahrung nicht richtig kauen können.
In nicht wenigen Fällen lässt sich nicht nur der Mesialbiss, also ein umgekehrter frontaler Überbiss feststellen. Vielmehr wird häufig der komplette Oberkiefer vom Unterkiefer umfasst. Die enge Zahnkeimlage im Oberkiefer lässt sich durch eine Röntgen-Übersichtsaufnahme, ein sogenanntes Orthopantomogramm, ebenso feststellen, wie die zu weite Zahnkeimlage im Unterkiefer. Bei der Röntgenaufnahme wird eine halbkreisförmige, zweidimensionale Aufnahme von Ober- und Unterkiefer gemacht. Neben den Zähnen werden auf der Aufnahme die angrenzenden Bereiche des Kiefers, die Kiefergelenke sowie die linke und rechte Kieferhöhle dargestellt. Weil der seitliche Bereich des Halses ebenso erfasst wird, kann durch diese Röntgenuntersuchung nebenbei festgestellt werden, ob an den großen Halsschlagadern Arterienverkalkungen vorliegen.
Besonders auffällig ist die nicht korrekte Zahnkeimlage im Bereich der zweiten Prämolaren- (Vormahlzahn-) sowie der Weisheitszahnkeime. Insgesamt wird die Fehlstellung von Ober- und Unterkiefer durch die Fernröntgenseiten-Aufnahme des Schädels eindrucksvoll dargestellt. Die gründliche Diagnostik, insbesondere die Frage, um welche Form der Progenie es sich handelt, ist die Grundvoraussetzung für die anschließende Therapie. Diese verfolgt das Ziel, den Platzmangel im Kiefer auszugleichen.
Die Vererbung spielt insofern für das Entstehen einer Progenie eine wesentliche Rolle, weil die Veranlagung dazu dominant vererbt wird. Damit sich die (echte) Progenie ausprägt, reichen die entsprechenden Gene von einem Elternteil. Die bekannteste Familie, deren Mitglieder massiv unter dieser Kieferfehlstellung gelitten haben, ist das Adelsgeschlecht der Habsburger. Nach ihnen wurde sogar das offensichtlichste äußere Merkmal, die dominante Unterlippe, als „Habsburger Lippe“ benannt.
Letzte Aktualisierung am 19.09.2019.