Der Begriff Progenie gehört in der Zahnheilkunde zu den sogenannten Dysgnathien. Hierbei handelt es sich um Fehlbisse beziehungsweise anomale Entwicklungen des Kausystems. Abweichungen von der Eugnathie – dem gut ausgeformten Gebiss – sind in der zahnärztlichen Praxis sehr häufig. Hinsichtlich der Progenie handelt es sich genau genommen um verschiedene Diagnosen, welche allerdings ein sehr ähnliches klinisches Bild entstehen lassen. Die unteren Schneidezähne ragen über die oberen Schneidezähne beim Schließen der Kiefer hinaus. Dies wird auch als inversiver Überbiss bezeichnet. Letztlich ist die Diagnose nicht vom Schweregrad abhängig, sondern es geht bei der Progenie um ein spezielles klinisches Bild.
Bei der heute allgemein als Progenie bezeichneten Fehlstellung der Zähne handelt es sich um einen umgekehrten Überbiss. Das beim Menschen normal entwickelte Gebiss ist ein Scherengebiss, in dem die oberen Schneidezähne leicht vor den unteren Schneidezähnen schließen. Beim Entstehen einer Progenie sind die Lageverhältnisse genau umgekehrt. Die unteren Schneidezähne stehen hier vor den oberen. Ist dies der Fall, dann handelt es sich unabhängig vom Grad der Erkrankung um eine Progenie. Hinzu kommen jedoch meist weitere Dysgnathien (Kieferfehlstellungen), da eine Progenie sehr häufig das gesamte Kausystem beeinflusst.
Für das Entstehen des umgekehrten Überbisses können zwei Ursachen verantwortlich sein. Auf der einen Seite können Wachstumsveränderungen des Oberkiefers zur Progenie führen, andererseits wird die Diagnose auch gestellt, wenn der Unterkiefer sich abnorm entwickelt. Beide Ursachen ziehen aber eine jeweils andere Bezeichnung nach sich.
Diese Form der Progenie beruht darauf, dass sich der Unterkiefer im Verlauf des Wachstums überentwickelt. Der Oberkiefer nimmt eine normale Entwicklung. Die Entwicklung dieser Dysgnathie kann von weiteren Fehlbissen begleitet werden. So besteht durch den zusätzlichen Raum im Unterkiefer die Gefahr, dass sich zwischen den einzelnen Zähnen erhebliche Zwischenräume entwickeln.
Davon ist die Rede, wenn sich der Unterkiefer normal entwickelt, der Oberkiefer hingegen unterentwickelt bleibt. Ursächlich für diese Entwicklungsstörung können Gaumenspalten, nicht angelegte Oberkieferzähne oder ein früher Verlust von Zähnen im Oberkiefer sein.
Beide Formen der Progenie lassen sich auch äußerlich unterscheiden. So tritt bei der mandibulären Prognathie sehr häufig die sogenannte Lippentreppe in Erscheinung – aufgrund der kräftig entwickelten Unterlippe.
Die unechte Progenie geht hingegen nicht selten mit einem abgeflachten Mittelgesicht einher. In der Entstehung der Fehlstellung spielen die Gene eine Rolle. So lässt sich an Bildquellen beispielsweise die Progenie für das Geschlecht der Habsburger über mehrere Jahrhunderte nachweisen. Schuld ist die dominante Vererbung der Progenie.
In der Praxis kann bei Fehlstellungen des Kiefers oder der Zähne eine Einteilung anhand kieferorthopädischer Indikationsgruppen (KIG) erfolgen. Diese beschreiben im Wesentlichen, wie wichtig im einzelnen Fall eine Behandlung ist und ob die Krankenversicherung die Therapiekosten übernimmt. Bei der Progenie kommen KIG Grad 4 und 5 vor – die unteren Schneidezähne stehen weniger als drei Millimeter beziehungsweise mehr als drei Millimeter vor den oberen. Bei beiden Schweregraden zahlt in der Regel die Krankenversicherung die Behandlung.
Aufgrund der Tatsache, dass es sich bei der Progenie in ihren beiden Verlaufsformen (mandibuläre Prognathie, maxilläre Retrognathie) nicht um reine Zahnbewegungen im Zahnfach handelt, ist die Therapie aufwendig. Generell sollte die Behandlung sehr früh in Angriff genommen werden – um einen guten Behandlungserfolg zu gewährleisten. Beispielsweise muss der Behandler darauf hinarbeiten, den Oberkiefer entsprechend zu entwickeln und dem Platzmangel vorzubeugen. Neben Multibracket-Systemen (festen Zahnspangen) können zur Behandlung der Progenie auch
zum Einsatz kommen. Die kieferorthopädische Behandlung zieht in dieser Form allerdings starke Krafteinwirkungen nach sich.
Bewährt hat sich in der Therapie der Einsatz eines Funktionsreglers nach Fränkel. Voraussetzung für eine zielgerichtete Behandlung ist die frühe und umfassende Diagnose. Gestellt durch den Zahnarzt/Kieferorthopäden, kann unter Umständen mit Zahnspangen noch erfolgreich gearbeitet werden.
Allerdings ist die Progenie kein Fehlbiss, der innerhalb weniger Monate behandelt werden kann. In der Regel ist – auch bei einem frühen Behandlungsbeginn – eine mehrjährige Therapie erforderlich. Diese kann sich je nach dem Schweregrad leicht bis über die Pubertät hinaus erstrecken. Neben den bisher genannten rein kieferorthopädischen Maßnahmen besteht die Möglichkeit einer operativen Behandlung. Letztere übernimmt die Kieferchirurgie. Es handelt sich an diesem Punkt in aller Regel um eine Kombination aus kieferorthopädischen Maßnahmen und Kieferchirurgie. Letztere macht nicht selten ein Abtragen von Knochenmaterial erforderlich. Ziel ist eine Verschiebung der Kiefer in eine anatomisch günstige Stellung. Die Kosten der Behandlung kann die Krankenkasse tragen, sofern die hierfür geltenden Voraussetzungen erfüllt sind.
aktualisiert am 13.02.2018