Bei gesunden Menschen ohne Zahnfehlstellungen entwickelt sich ein sogenanntes Scherengebiss. Diese Normalstellung oder Eugnathie ist allerdings in der Zahnmedizin nicht unbedingt der häufigste „Befund“. Sogenannte Dysgnathien, Fehlstellungen, treten immer wieder in Erscheinung. Die Grenzen verlaufen mitunter fließend. Zu den Fehlbissen gehört die Progenie. Diese hat nicht nur Folgen für die Ästhetik des Gesichtes, sondern auch für die Funktion des Kiefers. Was passiert, wenn Betroffene diese Fehlstellung nicht früh genug oder gar nicht behandeln lassen? Eines vorweg: Die voll ausgeprägte Progenie wird heute oft mit einer Kombination aus KFO (Kieferorthopädie) und Kieferchirurgie behandelt. So weit muss es aber nicht kommen.
Die Bezeichnung Progenie ist heute nicht mehr zutreffend, wird aber nach wie vor im alltäglichen Sprachgebrauch genutzt. In der Zahnmedizin zutreffend sind die Begriffe mandibuläre oder maxilläre Prognathie. Beide beschreiben verschiedene Diagnosen, die in ihrer Entstehung und Ausprägung sowie den Folgen durchaus gewisse Unterschiede aufweisen.
Diese wird auch als unechte Progenie bezeichnet. Während sich hier der Unterkiefer anatomisch korrekt entwickelt, kommt es zu einer Unterentwicklung des Oberkiefers. Ursächlich können hierfür verschiedene Auslöser sein. So führt die Nichtanlage von Zähnen oder deren verfrühter Verlust zu dieser Veränderung. Merkmal der maxillären Retrognathie ist das eingefallene Mittelgesicht.
Hier fällt auch die Bezeichnung echte Progenie. Anders als im Rahmen der maxillären Retrognathie ist für diesen Befund tatsächlich eine Überentwicklung des Unterkiefers verantwortlich. Bei Patienten mit mandibulärer Prognathie entstehen mitunter Lücken in der unteren Zahnreihe. Zudem kann sich die Progenie auch auf den Oberkiefer nachteilig auswirken, da der Oberkiefer beziehungsweise die obere Zahnreihe eingeengt wird. Zu den äußeren Merkmalen der mandibulären Prognathie gehört die positive Lippentreppe (die Unterlippe steht vor der Oberlippe).
Mandibuläre Prognathie und maxilläre Retrognathie lassen sich mitunter bereits im Vorschulalter erkennen. Entsprechend früh wäre natürlich an eine Behandlung zu denken. Trotzdem kommt es immer wieder vor, dass die Dysgnathie erst relativ spät erkannt wird. Es entsteht eine problematische Situation, da sich die Auswirkungen der Progenie mit Andauern der Fehlstellung eher verschlimmern.
Die Behandlung kann - anders als bei vielen anderen Fehlbissen - bereits früh in Erwägung gezogen werden. Seitens der Leitlinien ist der Befund ein Anlass (eine Indikation) für Frühbehandlungen ab dem 4. Lebensjahr. Um in diesem Alter erfolgversprechend einen Ansatz durchführen zu können, ist die Mitarbeit des Kindes unbedingte Voraussetzung.
Sofern der Patient nicht behandelt wird oder sich gegen die Einleitung der Therapie entscheidet, entsteht im weiteren Verlauf ein umfangreiches Beschwerdebild. Die Einengung des Oberkiefers durch die überstehenden unteren Frontzähne kann die Kaufunktion nachhaltig stören. Wie stark die Kaufunktion beeinträchtigt wird, hängt von der Schwere der Progenie ab. Quellen berichten zum Beispiel von einigen Angehörigen des Fürstengeschlechts der Habsburger mit so ausgeprägtem Krankheitsbild, dass ein Kauen nahezu unmöglich war.
Ein weiterer Aspekt der Progenie betrifft die Sprachfähigkeit. Hinzu kommen weitere Beschwerden wie Schmerzen in den Kiefergelenken, Beeinträchtigungen der Nasenatmung – ganz abgesehen von der Ästhetik, die von Betroffenen oft als unangenehm empfunden wird.
Bei einer Progenie entwickelt sich letztlich ein sogenannter Mesialbiss. Das bedeutet, dass die Zähne des Unterkiefers vor denen des Oberkiefers liegen. Im Oberkiefer kann die Progenie zu einem mangelnden Platzangebot für die Zähne führen. Dafür besteht im Unterkiefer oft zu viel Platz und zwischen den Zähnen können sich größere Abstände finden. Des Weiteren hat die Progenie eine Auswirkung auf die Lage der Zunge. Diese steht häufig weiter unten und vorne als bei anderen Personen.
Die Behandlung sollte bei skelettalen Auslösern vor Abschluss des Wachstums erfolgen. In diesem Zeitfenster kann der Behandler noch kieferorthopädisch arbeiten. Sobald das Wachstum abgeschlossen ist, bleibt meist nur noch eine Möglichkeit: Kieferchirurgie. Dieser Schritt kann vermieden werden – sofern die Behandlung nicht zu spät beginnt. Aufgrund der Komplexität der Zahn- und Kieferfehlstellung ist mit einer mehrjährigen Therapie zu rechnen.
Mandibuläre Prognathie und maxilläre Retrognathie sind Zahnfehlstellungen, deren Behandlung keinesfalls zu lange hinausgeschoben werden sollte. Nicht ohne Grund sehen die Leitlinien hierin eine der seltenen Indikationen für die Frühbehandlung bei Kindern – etwa mit dem Funktionsregler nach Fränkel, einem speziellen Gerät der Kieferorthopädie. Ziel ist die Förderung eines optimalen Wachstums des Oberkiefers beziehungsweise eine Kontrolle der Unterkieferentwicklung. Es kommt letztlich nicht nur auf die Mitarbeit der Kinder als Patient an. Die Rolle der Eltern darf an diesem Punkt nicht unterschätzt werden. Andernfalls ist mit einer deutlichen Verschlechterung der Befundsituation zu rechnen – und mit weiteren Beeinträchtigungen.
aktualisiert am 19.09.2019